Die Blogparade Europa und das Meer dreht sich um das Leben am Meer. Welche Bilder kommen einem in den Sinn, wenn man ans Meer denkt?
Ich finde es richtig spannend, denn je länger ich darüber nachdenke, desto unterschiedlicher werden meine Assoziationen. Und vielleicht auch emotionaler.
Das Meer als Sehnsuchtsort
Direkt nach dem Abitur 1999 zog ich in ein norwegisches Internat. Ich war 19 und es war meine erste große Reise. Ohne tiefergehende Norwegischkenntnisse zog ich mit einem riesigen Rucksack und einem Koffer los. Gemeinsam mit meinen Eltern bis Hirtshals, danach alleine mit der Fähre nach Kristiansand in Südnorwegen.
Meine Familie stand am Kai und winkte mit dem weißen Taschentuch. Ich heulte Rotz und Wasser und zweifelte an meiner Entscheidung alleine ins Ausland zu gehen. Und was, wenn die Fähre unterginge? Das war eine meiner tiefer liegenden Ängste, die etwas mit der Geschichte meiner Familie zu tun hat. Dazu komme ich später. Als dann noch über Lautsprecher mein Name ausgerufen wurde -wer bitte kennt mich denn hier?- war die Panik perfekt. Aber alles war in bester Ordnung: Die Lehrerin, die mich auf der norwegischen Seite in Empfang nehmen sollte, ließ mir ausrichten, daß sie sich verspäten würde. Aber sie käme auf jeden Fall. Puh. Es wartet jemand auf mich. Jetzt konnte ich mich freuen.
Diese Überfahrt war für mich ein Symbol der Freiheit, des Erwachsenwerdens. Dieses Jahr auf der Folkehøgskole Sørlandet, die Damals noch Birkeland Folkehøgskole hieß, hat mich für das ganze Leben geprägt:
In dieser Zeit hatte ich auch das erste Mal Kontakt zu Flüchtlingen. Es war die Zeit der Balkankriege. Hörte mir Geschichten von Überfällen, Morden, Vertreibung und Flucht an. Lernte Menschen kennen, die selbst getötet haben. Konnte kaum die Geschichten ertragen. In meiner Klasse wurden Menschen aus über 20 Nationen unterrichtet und ich bekam Einblick in fremde Kulturen und fremde Ängste. Ein Mädchen aus Afrika durchlebte jede Nacht aufs Neue, wie ihre Schwester von Rebellen erstochen wurde.
Viele der Ausländer, die von anderen Kontinenten kamen hatten Schwierigkeiten sich an fremde Speisen, das Klima und die Sprache zu gewöhnen. Dort erlebte ich aber auch, wie man sich einander annähert, Konflikte löst und wie eine Gemeinschaft jedem Einzelnen eine Stütze sein kann.
In dieser Zeit war ich das erste Mal für länger Ausländerin und bekam einen völlig anderen Blick auf meine Heimat. Ich wurde mit der düsteren Vergangenheit meines Volkes konfrontiert, dachte über meinen Anteil an der Kollektivschuld nach und spätestens zu diesem Zeitpunkt war meine politische Einstellung sonnenklar.
Was hat das nun mit Meer zu tun?
Während meines Auslandsjahres war ich sehr viel am Meer, was in Norwegen von keinem Punkt aus schwierig zu erreiche ist. Ich konnte stundenlang am Ufer sitzen, in die Wellen blicken und meine Gedanken schweifen lassen. Das Meer steht für ein Gefühl der Freiheit, der Verbundenheit mit Menschen aus der ganzen Welt. Mit Erfahrungen als junge Erwachsene, die mein Leben geprägt haben. Für Erfahrungen, die ich jedem Menschen wünsche, denn der Perspektivenwechsel erdet ungemein.
Wenn ich heute am Meer bin, ist das auch immer wieder eine Erinnerung an diese Zeit. An die Menschen, die ich dort kennenlernen durfte, die mein Leben so stark geprägt haben.
Das Meer hätte mich beinahe verhindert.
Die folgende Geschichte kann ich sicherlich nicht faktengetreu widergeben, falls historische Fehler auftreten, bitte ich das zu verzeihen.
Als der zweite Weltkrieg ausbrach, lebte die Familie meiner Mutter in der (ost)preußischen Stadt Königsberg, die heute russisch ist und den Namen Kaliningrad trägt. Kurz nach Kriegsbeginn bekam das junge Ehepaar das erste Kind, auf den Tag genau drei Jahre später wurde meine Mutter geboren. Meine Großmutter hatte knapp zwei Wochen zuvor also die schweren Bombenangriffe durch die Sowjetunion und England unbeschadet überlebt.
Mein Großvater war meines Wissens nicht anwesend, man erzählt sich, daß er Brücken für die Flüchtlinge baute.
Anfang 1945 wurde Ostpreußen von der Sowjetunion vom restlichen Deutschen Reich abgeschnitten und spätestens dann war Königsberg nicht mehr sicher. Schön länger kämpfte die Familie ums Überleben und der letzte Ausweg war die Flucht über die Danziger Bucht.
Ende Januar erreichten die Frauen (nach meiner Information waren keine Männer dabei) und die beiden Kleinkinder Gotenhafen (heute poln. Gdynia), von wo aus sie mit der Wilhelm Gustloff, einem Kreuzfahrt- und Kriegsschiff, über das Meer reisen wollten.
Die Wilhelm Gustloff lief am 30. Januar 1945 gegen 13:10 Uhr in Gotenhafen ab. Gebaut war das Schiff für 1.463 Passagiere. Es gibt keine exakten Aufzeichnungen, aber Augenzeugen sprechen von bis zu 10 000 Passagieren an diesem Januartag.
Um 21:16 Uhr ließ der sowjetische U-Boot Kommandant, Alexander Iwanowitsch Marinesko vier Torpedos auf das Schiff abschießen, von denen drei den Bug der Wilhelm Gustloff trafen. Das überbeladene Schiff mit viel zu wenigen Rettungsbooten sank etwa 23 Seemeilen vor der pommerschen Küste, wo um 22:15 Uhr über 9000 der Passagiere in den eisigen Fluten den Tod fanden.
Der geneigte Leser weiß, daß meine Mutter nicht auf dem Schiff war. Es gab keine Karten mehr für die Überfahrt und die Familie wollte sich mit dem vier Monate alten Säugling nicht einfach an Bord quetschen. Gesundheitlich ging es den beiden kleinen Kindern nicht sehr gut. Es gab viel zu wenig zu Essen, und meine Urgroßmutter mußte meiner Mutter das Essen vorkauen, um sie vor dem Verhungern zu bewahren.
Später wurde die Familie auseinander gerissen. Das dreijährige Kind überquerte zusammen mit der Tante das Meer, meine Mutter und die Großmutter mußten ein anderes Schiff besteigen. Ich möchte mir gar nicht ausmalen, was die Trennung für Mutter und Kind bedeutete. Gerade in Anbetracht der vorangegangenen Schiffskatastrophe.
Wer mehr dazu lesen möchte, vor allem fundierter, denn ich kann nur Erzählungen nacherzählen, dem empfehle ich das Projekt LeMO des Deutschen Historischen Museums (das auch Veranstalter dieser Blogparade ist). Das habe ich bei meiner Recherche zu den Ereignissen entdeckt. In der Kategorie Zeitzeugen bekommt man die Infos und Emotionen aus erster Hand.
Was hat das nun mit Meer zu tun?
Für mich sind Freude und Schrecken in Bezug auf das Meer immer verbunden. Als Kind hat mich die Geschichte der Flucht immer sehr fasziniert und dieses “um ein Haar” erfüllt mich heute mit großer Dankbarkeit, daß es mich gibt. Ich stellte mir oft vor, wie es ist im eiskalten Meer zu ertrinken und hatte jedes Mal Respekt davor auf ein Schiff zu steigen.
Und die Gedanken an die Flucht 1945 steigen immer dann auf, wenn wieder Debatten über Rettungseinsätze an Europas Außengrenzen geführt werden.
Lesetipps #DHMEER
Diese Blogparade hat bis dato sage und schreibe 107 (!!) Beiträge und zeugt von einer hohen Emotionalität was das Thema Meer und Europa angeht. Und davon, daß die Kulturbloggerin Tanja Praske weit über ihre Bloggerblase hinaus Menschen zum Mitmachen bewegt hat. Ganz im Sinne der Vernetzung.
Ich habe längst noch nicht alle Beiträge gelesen. Aber ich bin schon über einige Perlen gestolpert, die ich ausdrücklich empfehlen kann:
Zur Flüchtlingsproblematik schreibt Claudia Wagner: Im Meer ertrinken Menschen und unsere Menschlichkeit, Astrid schreibt dazu: Seitdem wieder Menschen über die Meere kommen, aus Krieg und Not und Unterdrückung, taugen diese Ideen & Ideale aber auf einmal manchen in Europa nichts mehr. Langsam, aber sicher entledigen sich allerorts Europäer lautstark und dominant der Tabus und der Überzeugungen, die so lange und aufgrund historischer Erfahrungen gewachsen sind.
Erinnerungen und erlebte Geschichten rund um das Meer findet man z.B. bei Peter G. Spandl. Er erzählt, wie sein VW-Bus auf dem Weg zum Meer brannte, und woher eigentlich das Salz kommt (wer hat’s erfunden? Die Norweger). Ulrike Bielke scheibt in Das Meer, mein blaues Band wie sich die Liebe zum Meer durch ihr Leben zieht und sie zur GPS-Expertin wird.
Ricarda hat schon viel gesehen und ist Verliebt in das Meer! Ich muß jetzt dringend mal nach Albanien!
Alltagsbezug fand ich bei Dr. Alexandra Hildebrandt, die von den Menschen erzählt, für die das Internet eine Art Meer ist und die es wie Columbus entdecken.
Franz Neumeier, der beruflich auf allen Meeren der Welt unterwegs ist beschreibt das Desaster Umweltverschmutzung und schließt seinen Text mit der Aufforderung: “Das Leben ist schön. Die Welt ist schön. Lasst uns das konsequenter bewahren!“ und hat ein geniales goldenes Meeresbild, daß genau das auszudrücken vermag!
Kunstbezug: Matthias J. Lange bringt den wohl etwas exzentrischen Maler William Turner in die Blogparade. Dieser hat sich bei Sturm angeblich an einen Schiffsmast fesseln lassen, um die Naturgewalten am eigenen Körper zu spüren.
Macht auch hier mit!
Während ich mich weiter durch die Beiträge lese und später meine Lesetipps ergänze, möchte ich hier auf die nächste Blogparade überleiten: Die Bloggerkonferenz denkst in Nürnberg (Deren Mitveranstalterin ich bin) veranstaltet zusammen mit dem Museum für Kommunikation und Tourismus Nürnberg eine Blogparade zum Thema #medienkompetent:
Wir laden Blogger und Schreibende aller Couleur und Richtungen zur Blogparade ein! Wir wünschen uns vielfältige Tipps, Sichtweisen und Austausch untereinander zum Thema Medienkompetenz. Weil es uns alle betrifft: #medienkompetent
Super Webseite, danke für diesen tollen Beitrag… werde hier auch in Zukunft zurückgreifen ;-) DANKE !!!! Liebe Grüße Mia
Durch die tolle Zusammenfassung der Blogparade bin ich heute auf Deinen Beitrag gestoßen, der mich sehr berührt… Habe mich kürzlich mit der Fluchtgeschichte meiner Oma auseinandergesetzt (dazu auch eine Collagen-Serie erarbeitet und im Rahmen eines Kunstfestivals gezeigt). Nur leider wurde bei uns nicht darüber gesprochen, so dass ich vieles nur erahnen kann. Dein Gefühl der Dankbarkeit steckt an :-) Danke. Doreen
Liebe Susanne
Erst mal ganz lieben Dank für Deine Leseempfehlung.
Auch meine Eltern stammen aus dem heutigen Polen und wurden als Kinder mit Ihren Eltern, besser gesagt Müttern, Großmüttern und Tanten, vertrieben und befanden sich in jenem eisigen Januar 45 auf der Flucht. Als Flüchtlinge wurden sie dann, in Niedersachsen angekommen, bei Bauern zwangseinquartiert (das muss man sich mal vorstellen!) und waren nicht willkommen.
Auch ich kann die heutige Ablehnung schutzsuchender Menschen gegenüber nicht verstehen. Ulrike
Liebe Ulrike, herzlichen Dank für Deinen Kommentar.
Über Zwangseinquartierung haben wir in der Familie oft diskutiert. Die war für niemandem angenehm. Die Bauern fühlten sich gegängelt, hatten Angst die wenigen Lebensmittel teilen zu müssen, und ließen die Flüchtlinge ihre Ablehnung spüren. Die Flüchtlinge schämten sich, daß sie bei jemandem wohnen mußten, der sie nicht wollte.
Und trotzdem sind es auch oft ehemalige Flüchtlinge (sei es nach dem 2. Weltkrieg oder Flüchtlinge kürzer zurückliegender Katastrophen), die gegen neu ankommende Schutzsuchende aufbegehern.
Liebe Susanne,
vielen Dank für Deinen recht spät eingereichten, aber dafür tollen Beitrag.
Ich habe eben erst die letzten Links auf meinem Blog nachgezogen und dabei Deine beeindruckende Doppel-Geschichte entdeckt. Vielen Dank. Macht wirklich Gänsehaut. Vor allem der zweite Teil.
Danke auch für Deine “Lesetipps”
LG, Peter
Liebe Susanne,
dein Beitrag überraschte und berührte mich sehr! Ich stimme Astrid zu, vor allem der zweite Teil tat es mir an. Klasse auch, dass du sie Seite des Deutschen Historischen Museums dazu entdeckt hast – die ist sehr spannend in meinen Augen. Tatsächlich sollte sie auch von Lehrern für ihre Schüle empfohlen werden. Geschichte kann so spannend und unmittelbar aufbereitet werden und Zeitzeugenaussagen gewinnen noch ein ganz anderes Gewicht und Nachdrücklichkeit.
Auch deinen ersten Teil kann ich gut nachempfinden, da auch ich einmal nach der 10. Klasse für ein Jahr nach Amerika und dann wieder als Studentin ein Studienjahr in Frankreich verbrachte. Das erste Mal ließ es mich reifen, das zweite wusste ich, was ich auf jeden Fall erleben, ersehen und erfahren wollte und machte dann ganz aus Versehen meinen Studienabschluss dort.
Für eure Blogparade #medienkompetent drücke ich euch ganz fest die Daumen. Ich habe jetzt erst einmal mit dem Fazit, nein, den Fazits von #DHMMeer zu tun – 109 Beiträge, wie verrückt und wunderbar, vor allem da so viel Denkstoff hier liegt, unglaublich. Danke dir also ganz herzlichst, dass du mit so einem großartigen Beitrag mitgemacht hast!
Herzlich,
Tanja von KULTUR – MUSEUM – TALK
Mit großem Interesse habe ich deinen Post gelesen, deinen Erfahrungen in Norwegen, die dich geprägt haben und die ich sehr gut nachvollziehen kann. Fast atemlos habe ich den zweiten Teil verfolgt und kann den Gedankengang “Was wäre wenn…” mitempfinden, denn mein Mann, der Vater meiner Tochter, der Großvater meiner geliebten Enkelschar, hat als Vierjähriger die Geschehnisse in der Danziger Bucht überlebt, auch, weil meine Schwiegermutter nicht mehr auf die “Gustloff” kam, sondern auf die “Hansa”, die mir Motorschaden nur an der Küste entlang schippern konnte. An solch seidenen Fäden hängt das Schicksal…Mütterlicherseits habe ich auch einen Flüchtlingshintergrund, ohne Meer, aber auch mit so vielen Zufällen, dass es mich auch hätte nicht geben können.
Das steckt in meinen Genen, das bestimmt meine Haltung zur Flüchtlingsfrage und lässt mich so manchen Mitbürger nicht verstehen.
Danke für deine Erzählung!
Astrid