„Mein Vorhaben ist nichts Geringeres, als den Weg von Berlin nach Wien zu Fuß zurückzulegen“ schrieb Sophie Lüttich Anfang Juli 2019 auf ihrem Instagram-Account unter einem Bild von sich und ihren beiden Töchtern am Ötzlsee im Großarltal. Das erste Mal sprach sie öffentlich von ihrem Vorhaben, alleine über 700 km zu wandern, um ein zweites Mal ihre Haare für einen guten Zweck zu spenden.Meine erste Reaktion darauf war vielleicht ein bisschen übereilt, denn ich bot ihr an, von Nürnberg ein Stückchen mitzulaufen. Übereilt deshalb, weil der direkte Weg nicht einmal annähernd bei mir vorbeiführen würde. Ein bisschen Recherche vor dem Kommentieren hätte geholfen.
Im Sommer 2020 setzte sie ihren Plan in die Tat um und wanderte los. 30 Tage dauerte die Wanderung und über die sozialen Medien konnte die Community fast jeden einzelnen Schritt von Sophie mitverfolgen.
Mich faszinierte die ganze Aktion sehr. Selbst bin ich bereits einige Male Marathon gelaufen, aber 30 Tage alleine durch drei Länder, das ist eine ganz andere Herausforderung. Deshalb habe ich Sophie um ein Interview gebeten und wir haben unter anderem darüber gesprochen, wann man etwas vermisst, wie man Projekte angehen kann und ob eine solche Aktion einen anderen Menschen aus einem macht.
Liebe Sophie, wie kommt man auf die verrückte Idee alleine zu Fuß von Berlin nach Wien zu wandern?
Die Idee durfte sehr lange in meinem Kopf reifen, bevor ich 2020 losmarschiert bin. Verschiedene Puzzleteile fügten sich über die Jahre aneinander. Vor fünf Jahren habe ich spontan meine Haare an den Verein Haarfee gespendet. Als ich 2018 mit einem kaputten Knie bewegungslos auf dem Bett liegen musste, dachte ich darüber nach, was ich alles gerade nicht machen konnte, was sonst selbstverständlich ist. So reifte der Gedanke an die Wanderung.
Wie bist Du an die Planung der Reise herangegangen?
Im Dezember 2018 habe ich in die Wander-App auf meinem Handy „Berlin-Wien“ in eingetippt. Wie lange müsste mensch laufen? Sofort fühlte ich mich überfordert, weil die App nach dem Level fragte. Ich kannte mein Level beim Wandern nicht. Ich war noch nie mehr als einen Tag am Stück wandern.
Das Ergebnis „750 Kilometer, ca. 30 Tage“ schreckte mich jetzt nicht sonderlich ab. Der Jakobsweg zum Beispiel ist viel länger. Ich schaute mir die ungefähre Route auf der Karte an: einmal queer von Berlin runter, durch Tschechien und noch kurz durch Niederösterreich.
Ab da wurde es auch greifbar und ich sprach die Idee aus: Einmal öffentlich gemacht ist es für jemanden greifbar. „Etwas auszusprechen ist die kleinste Form des Prototypings“, heißt es.
Fragen aus der Community haben mich dann ins Denken gebracht und mich von meinem “Mount Stupid” runter gebracht. Man fragte mich, wie viele Kilometer ich pro Tag gehen wollte und wie viele Höhenmeter ich täglich schaffe. Auch ein kleiner Rucksack kann schwer werden, erfuhr ich dadurch.
Aus den vielen Fragen hat sich für mich die einfache Überlegung ergeben: Wie machen es andere, die Ahnung vom Thema Fernwandern haben? Und wie kann ich mich mit ihnen vernetzen, um von ihnen zu lernen?
Ich nutzte Working Out Loud (WOL) als Methode, um die Tour zu planen. Wie müssen die Etappen sein? Was brauche ich an Ausrüstung? Welche Planung ist notwendig?
Meine Motivation war zum einen der Druck durch das beantragte Sabbatical bei meinem Arbeitgeber, zum anderen konnte ich nur rausfinden, ob ich es kann, wenn ich es anpacke. Denn egal, wie viel ich in Hape Kerkelings Buch „Ich bin dann mal weg“ noch gelesen hätte, nichts hätte mir die Erfahrung gebracht, wie es tatsächlich ist, diese Wanderung zu machen..
Und wenn ich die Hälfte schaffe, hätte ich auch etwas für mich gelernt und ich hätte zumindest ein Lernziel.
Was wolltest du mit der Wanderung erreichen, was war -neben Wien- dein Ziel?
Mein Plan war es, die 750 Kilometer zu wandern und dabei 7.500 € über die Spendenplattform Betterplace für verschiedene Kinderhilfsprojekte und das Müttergenesungswerk zu sammeln.
Welche Rolle spielte deine Community?
Am ersten Abend kam die Enttäuschung mit voller Wucht: Noch immer war ich in Berlin und wäre in einer knappen Stunde mit dem Zug wieder zu Hause gewesen. Dazu der schmerzende Rücken und die Blasen an den Füßen.
Doch die Community half mir mit ihrem Zuspruch. Tagsüber hatte ich das Handy im Flugmodus, um Akku für die Wander-App zu sparen und nicht vom Weg abgelenkt zu werden. Abends entwickelte sich ein Ritual, bei dem ich frisch geduscht meinen Tag als Instastory geteilt habe. Für mich war das Motivation hoch drei. Etwa so, als hätte ich meinen Personal Trainer dabei. Rückblickend hatte ich die Community eigentlich die ganze Zeit in der Hosentasche dabei.
Ganz nach dem WOL-Prinzip nahm ich die Community jeden Tag mit, berichtete von meinen Erfolgen und nahm sie auch mit durch meine Zweifel. Manchmal lagen 10 km langweiliger Weg in immer die gleiche Richtung in ewig gleicher Landschaft vor mir.
Möchtest du von deinen besten Erfahrungen erzählen?
Es waren die kleinen Begegnungen mit Menschen, mit denen ich nicht gerechnet hatte. Zum Beispiel an der Grenze zwischen Brandenburg und Sachsen. Die geplante Unterkunft war eigentlich schon voll. Aber die Wirtsfamilie baute extra für mich das Zelt im Garten hinterm Haus auf, dass sie sich für ihren nun ausgefallenen Familienurlaub angeschafft hatten. Kein Hotel der Welt hätte schöner sein können. Ich wurde an den Familientisch eingeladen und sie teilten sogar ein sehr persönliches und trauriges Schicksal mit mir. Nach dem Frühstück spendeten sie meine Übernachtungskosten für das Kinderhospiz. Solche Begegnungen haben mich sehr geerdet.
Und ich habe mich neu verliebt. In Eis: Als Belohnung habe ich mir jeden Tag ein Eis gegönnt. Als Symbol für mich. Um mich selbst zu belohnen.
An meinem Geburtstag hat mir jemand aus meinem WOL-Circle ein Eis spendiert. Hinterlegt im Blumenladen am Weg.
Auch eine Erfahrung, die ich gemacht habe, ich weiß jetzt, wieso es eben “Working” Out Loud heißt und man nicht nur die Resultate sichtbar machen sollte: Die guten Erlebnisse kommen nur in dieser Art und Weise, wenn man sich traut, auch seine Arbeit und seinen Weg sichtbar zu machen. Nicht immer nur die Ergebnisse. Man könnte es mit Softwareentwicklung vergleichen, bei der man nicht nur das fertige Frontend, sondern auch mal das Backend sieht.
Hattest du irgendwann auf deinem Weg Angst?
Wie wahrscheinlich ist es, eine allein wandernde Frau im Wald zu treffen?
Nein, ich hatte keine Angst. Und mit meinem Mann hatte ich vereinbart, regelmäßig ein Bild mit meinem Standort zu schicken.
Es hat auch nur wenige getriggert, dass ich alleine als Frau unterwegs war.
Hat Dich die Reise verändert?
Ja, das verändert einen schon. Manche Probleme konnte ich nach der Wanderung beschmunzeln. „Ich habe schon ganz andere Sachen geschafft, dagegen ist das hier Pillepalle“.
Es hält nicht jeden Tag an, dieses Gefühl, aber es bringt Dinge wieder in den Kontext.
Es bringt die Sachen so schön in Relation.
Wir sind sprachlich schnell so weit zu sagen „Ich krieg die Krise!“, doch was passiert im schlimmsten Fall?
Es gibt für jeden etwas außerhalb der Komfortzone. Wenn man das, so etwas wie diese Reise einmal gemacht hat, verschiebt sich das alles.
Dummerweise hat man, wenn man davon liest, nur eine Ahnung davon. Weil es nicht das eigene Gefühl ist. Ich kann nur allen empfehlen, so etwas selbst einmal auszuprobieren. Es muss ja nicht gleich so eine Wanderung sein.
Wie siehst du die Reise im Rückblick?
Rückblickend hatte ich viel Glück oder nennen wir es eine überproportionale Häufung an guten Zufällen.
Ich habe gelernt, dass ich an neue Projekte, von denen ich keinen Schimmer habe, genauso herangehen kann.
Ich habe jetzt kein Problem mehr, zu sagen: „Das weiß ich noch nicht“, oder „Das könnte ich noch lernen.“ Mir von anderen etwas abzuschauen, und um Hilfe zu bitten, kann ich besser. Erfahrungen muß man schon selbst machen, aber nicht jeden bescheuerten Fehler.
Ich habe durch meine Wanderung von Berlin nach Wien wirklich eine Freude daran entwickelt, neue Dinge zu lernen, die ich noch nicht kann.
Auch die Erfahrung, dass es keine riesige Community braucht, um etwas zu erreichen, ist sehr wertvoll. Mein Vertrauen in die Community ist sehr groß. Ich hatte ein Spendenziel von 7500 €, also 10 Euro für jeden gelaufenen Kilometer. So war anfangs meine einfache Rechnung. Als ich mitbekam, dass diese Summe schon weit vor meiner Ankunft in Wien erreicht werden würde, habe ich das Spendenziel bewusst nicht nach oben gesetzt. Ich habe einfach der Community vertraut. Was passiert, passiert, dachte ich mir und so konnte ich am Ende über 16.000 € Spendengelder weiterleiten. Das verdanke ich allen Menschen, die anderen von dieser Wanderung erzählt haben, sie über Social Media geteilt haben und natürlich gespendet haben.
Was kannst du nach der Reise anderen mitgeben?
Ja, man kann sich immer die Frage stellen: Kann ich hier gerade einen Beitrag leisten? Habe ich etwas, das für andere nützlich sein kann, auch wenn es nur eine Kleinigkeit ist?
Und noch etwas: Manchmal fühlt man sich erschlagen von einem großen Ziel oder einer schwierigen Aufgabe. Und wenn das große Ziel so viel Ehrfurcht einflößt, dass es kaum erreichbar scheint, dann kann man es in kleine Schritte einteilen und sich die Frage stellen: Was kann ich heute tun? Was kann ich erst einmal für diesen einen Tag tun? So komme ich von der lähmenden Ohnmacht weg.
Was ist dein nächstes großes Ding?
Ich möchte erstmal viele kleine Dinge erledigen. Nach der Corona-Pandemie wieder zum Lieblingsitaliener um die Ecke gehen, an die Ostsee fahren und mit der Familie am Strand sitzen, in einen Pool springen, die liebste Freundin besuchen. Kleine Freuden genießen, die man erst zu schätzen weiß, wenn sie nicht mehr da sind.
Liebe Sophie, es war mir eine Ehre, Dich ein paar Kilometer auf Deinem Weg von Berlin nach Wien begleiten zu dürfen und ich danke Dir sehr für dieses Interview!
Mehr von Sophie Lüttich?
Sophie gibt es auf Berlinfreckles, auf Networkingmom, auf Instagram hier und hier , auf Twitter hier und hier und ganz besonders, weil sehr inspirierend möchte ich ihren LinkedIn-Account ans Herz legen.
Wahnsinn! Ich habe tiefsten Respekt vor dieser Tour! ..auch wenn du schreibst, “du hast schon ganz andere Dinge geschafft”. Chapeau! LG Jasmina
Liebe Suse, weil ich erst dieser Tage Deinen Kommentar unter meinem ersten 12 von 12-Beitrag entdeckt habe (Asche auf mein Haupt, nach der laaaangen Blogpause wusste ich einfach nicht mehr, wie’s geht), bin ich auch erst heute zum ersten Mal auf Deinem Blog unterwegs. Das Interview mit Sophie hat mir sehr gefallen. Ich finde so eine lange Wanderung per se mutig und allein noch um einiges mehr. Mein Wunsch für iiiirgendwann ist die Wanderung von Florenz nach Assisi – Träume braucht frau :-)). Herzliche Grüße, Christine